Sonntag, 2. November 2014

Reformation? Ja bitte! (Predigt) ebl

Predigt: Elfriede Bezold-Löhr, Pfarrerin

Sehnsucht nach Reformation
Katholische Christen wünschen sie sich ganz besonders – die Reformation. Nicht alle, aber ein sehr, sehr großer Teil von ihnen. Sie wünschen sich ein neues Nachdenken, den Abschied von manchem Dogma. Das ist überdeutlich geworden, als Papst Franziskus Anfang Oktober 2014 Bischöfe und Kardinäle nach Rom gebeten hat. Es ging um ‚Familie‘ und ‚Sexualität‘ und den Umgang mit wiederverheirateten Männern und Frauen. Da wünschen sich Millionen von Christen Reformen, sehnen sich nach tief gehenden Reformen. Nach einer richtiggehenden Reformation.

Evangelische Christen wünschen sie sich auch – eine zweite Reformation. Diejenigen unter uns, die leiden an unseren leeren Kirchen am Sonntag früh, in denen sich fünfzehn oder zwanzig Menschen in Räumen verlieren, die für Fünfhundert gebaut worden sind. Diejenigen, die das Gefühl haben, dass ihre Kirchensteuer eher in teure Baupojekte fließt als in die Kirchengemeinden für die Kinderangebote. Diejenigen, denen der lautlose Austritt von Hunderten von Evangelischen im Jahr weh tut, von denen manche sagen: „Ich hab‘ in dieser Kirche keine Heimat mehr. Ich verstehe so wenig von dem, was da gesagt wird. Und ich habe das Gefühl, dass das alles an meinem Leben und meinen Alltagsthemen voll vorbei geht.“

‚Sunday Assembly‘
Dabei sehnen sich noch immer viele nach guter Gemeinschaft und nach Orientierung. Sogar am Sonntag früh…. Ich habe verblüfft in der aktuellen Wochenend-Ausgabe der SZ über eine Bewegung in Deutschland gelesen, die ganz jung ist. Es ist die ‚Sunday Assembly‘. Da treffen sich in deutschen Großstädten am Sonntag Vormittag Leute allen Alters – auch ihre Kinder sind dabei.
Beispiel Hamburg-Altona: Die gemeinsame Zeit beginnt mit Liedern. Die Texte sind mit Beamer auf die Großleinwand projiziert. ‚Immagine‘ von John Lennon. ‘Say you, say me‘ von Lionel Richie. Die Leute stehen lose im Raum, singen und swingen mit. Dann leuchtet das Motto von ‘Sunday Assembly’ auf: “Lebe besser, helfe oft, staune mehr.” In dem kleinen Vortrag, der sich anschließt, geht es um ‚Achtsamkeit‘. Dazwischen stille Momente, emotionale Lieder, aufmerksames Zuhören. Dann wandert eine Schale durch die Reihen der Besucher: Bonbons mit kleinen Fähnchen werden ausgeteilt. Darauf stehen Fragen. Zu diesen Fragen soll man mit den Nachbarn in ein kurzes Gespräch kommen. Dann noch ein Lied. Der Hinweis auf das Sparschwein am Ausgang. Kein Segen. Stattdessen Kuchen und Tee.

Zwei britische Komiker haben 2013 in London ein erstes Mal eine solche Veranstaltung abgehalten. Eine ungezwungene Sonntags-Zusammenkunft, bei der Nicht-Gläubige oder Irgendwie-Gläubige gemeinsam singen und andächtig sein können. In diesem Herbst, ein Jahr später, starten sechsunddreißig Städte in acht Ländern solche Assemblys. Dieses Angebot trifft das Bedürfnis der Menschen nach Orientierung und Gemeinschaft. Zugleich sind die Treffen frei von Aggressivität und Doktrin. Jeder kann dort denken, was er will und sagen, was er will. Niemand wertet. Alle sind frei, ihre Lebensphilosophie, ihren Glauben auszudrücken, zu diskutieren, die eine oder andere Ansicht vielleicht zu reformieren.

Das prominente Vorbild im Reformieren
Ein Meister im Reformieren ist bis heute Martin Luther. Vorgestern, am Freitag, hätte er eigentlich das Gesprächsthema sein sollen.
31. Oktober. Reformationstag. 1517, vor fast fünfhundert Jahren, hat Martin Luther angeblich am 31.Oktober 95 Kernsätze, sogenannte ‚Thesen‘, an die Kirchentür der Schlosskirche von Wittenberg genagelt. Darin hat er den Ablass zur Diskussion gestellt. Die Tradition, dass sich die Leute seiner Zeit in der Kirche gegen Geld frei kaufen konnten von Schuld. Nicht nur sich selber, sondern auch ihre Eltern, ihre Omas und Opas, auch die Urgroßeltern.
Martin Luther hat mit seinem ersten Diskussionsaufruf das Ende des Mittelalters eingeläutet. Tausend Jahre kirchlicher Lehre, kirchlicher Leitung, tausend Jahre der kirchlichen Macht- und Prachtentfaltung stehen mit einem Mal auf dem Prüfstand. Im Herbst 1517 hat wohl noch niemand geahnt, welchen Flächenbrand Martin Luther mit seinem lauten Nachdenken über unseren christlichen Glauben auslösten sollte. Wäre er still geblieben, wenn er es geahnt hätte? Ich glaube nicht. Denn Martin Luther wollte Glaubens-Wahrheiten  herausarbeiten, wie er sie in der Bibel gefunden hatte.

Gedanken über die Freiheit in der Bibel
Eine dieser Schlüsselstellen für Martin Luther handelt von der Freiheit. Wir lesen sie im Neuen Testament in einem Brief. Paulus hat ihn geschrieben, ein leidenschaftlicher Missionar, der vom Judentum zum christlichen Glauben übergetreten ist.
Im Brief an eine ziemlich junge Christengemeinde in Galatien (Landstrich in der heutigen Türkei) schreibt Paulus Folgendes:
„Christus hat uns befreit, damit wir auch in Freiheit leben! Zeigt also Rückgrat und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Ich muss es euch wohl noch einmal ganz deutlich sagen: Wenn ihr euch beschneiden lasst, also den Weg des Gesetzes geht, dann ist das, was Christus für euch getan hat, nutzlos. Begreift doch: Wenn ein Mensch sich für diesen Weg entscheidet, dann muss er ihn auch mit allen Konsequenzen gehen. Er muss alle Forderungen des Gesetzes erfüllen, denn schließlich möchte er sich ja durch seine eigene Leistung die Anerkennung Gottes verdienen. Damit hat er jedoch seine Verbindung mit Christus aufgegeben und ist aus der unverdienten Gnade Gottes buchstäblich herausgefallen. Durch Jesus aber haben wir einen anderen Zugang zu Gott: Durch die Zusagen, dass sein Heiliger Geist in uns lebt, und durch unser Vertrauen auf Jesus dürfen wir in der Hoffnung leben, dass wir für alle Zeiten von Gott angenommen sind. Denn wenn wir zu Jesus gehören, ist es völlig gleichgültig, ob einer durch die Beschneidung den Weg des Judentums gehen will oder nicht. Es zählt allein der Glaube, der sich dann auch in Taten der Liebe zeigt. (Gal.5, 1 – 6)

Frei sein von Gesetzlichkeit
Was macht mich gut in den Augen Gottes? Martin Luther wollte mit Gott in einer liebevollen Verbindung stehen. Er wollte den dauernden Zugang zu ihm. Und Martin hat sich dafür so lange geschunden, bis er erkannt hat: „Was ich da tue, ist sinnlos. Ich quäle mich ab für eine Sache, die längst passiert ist. Meine gestörte Verbindung zu Gott ist längst repariert. Das Netz ist da. Die Verbindung von mir zu ihm steht. Durch Jesus Christus, seinen Sohn. Ich muss das nur glauben. Voll Vertrauen sagen: „Ok, Gott, ich habe begriffen. Ich erreiche dich immer und überall. Du bist für mich da. Dafür muss ich nichts vorher tun.‘ Ich bin dein freies Kind.“

Die Leute, gegen die Paulus damals in seinem Brief gewettert hat, sahen das anders. Sie haben den Christen in Galatien eingehämmert: „Stopp! So einfach geht das mit dem Christsein nicht! Ihr solltet als Christen auch die jüdischen Gesetze, die Gott uns im Lauf der Jahrhunderte gegeben hat, möglichst genau befolgen. Dazu gehört auch die Beschneidung. Tut uns leid - nur wer beschnitten ist als männlicher Jude, kommt bei Gott an.“
Dazu sagt Paulus: „Leute, es zwei Wege für euch zu Gott. Der erste ist der Weg der Gesetze. Dieser Weg bedeutet: Ihr müsst alles, aber auch wirklich die kleinste Vorschrift, ganz exakt einhalten. Dann könnt ihr hoffen, dass ihr vor Gott Gnade findet. Der zweite Weg ist der Weg über Jesus Christus. Da könnt ihr alle diese Vorschriften vergessen. Was ihr braucht, ist Vertrauen. Vertrauen darauf, dass ihr Gott so wichtig seid, dass er euch den weg zu sich selber schon frei gemacht hat.“

Frei werden zum Einsatz für andere
Martin Luther saugt auf, was Paulus da schreibt. Und merkt: „Die Freiheit, die Gott mir da schenkt, macht etwas mit mir. Ich vertraue darauf, dass er mich liebt – das verändert mein Inneres. Mein Wesen. Meine Persönlichkeit. Ich kann anfangen, von mir wegzuschauen. Ich atme durch und entspanne mich. Die Angst, die ich so lang in mir gehabt hab, wird immer weniger. Plötzlich wird mein Blick frei für die Leute um mich herum. Ich spüre es, wenn jemand Probleme hat und hab‘ den Wunsch, ihm zu helfen. Ich sehe es, wenn jemand extrem gut drauf ist und freu mich mit ihm. Ich wünsche mir, dass von der Liebe, die Gott mir entgegenbringt, etwas durchscheint für andere. Ich will von der Wärme, mit der Gott mich in seiner Nähe hält, anderen etwas abgeben. Weil ich ‚freies Kind‘ Gottes bin, kann ich auf einmal ‚freiwillig‘ für andere da sein.“

Neue Freiheit in unseren Gemeinden

Wie sehen unsere Gemeinden aus, wenn wir uns unsere Freiheit von Gott heute neu zusprechen lassen? Wenn uns klar wird, dass weder kirchliche Traditionen noch kirchliche Autoritäten per se unumstößlich sind? Wir sind Gottes freie Kinder. Frei von Gesetzeszwängen, allein durch das gebunden, was wir von Jesus Christus über Gott lernen. Da ist viel Raum für Neues, wie ich meine. Wir können nicht mutig genug sein im Suchen und Riskieren von Neuem. Reformation? Ja bitte. Immer wieder. Immer neu. Das gilt für  mich als Einzelne und es gilt für uns als Christengemeinschaft. So lange wir leben und Gott mit uns seine Geschichte schreibt. Wir sind so frei! Denn Gott hat uns frei gemacht. Amen.

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